Streik in Berlin (2)

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Auszüge aus dem Tagebuch eines Unbekannten, der im Verlauf der Streiks im öffentlichen Dienst in Berlin (4. März 2008 – 11. Dezember 2012) verschwand. Das Letzte, was wir von ihm wissen, ist, dass er es im Frühjahr 2009 irgendwie geschafft hat, in einen S-Bahn-Waggon zu schlüpfen.

Mittwoch, 5. März 2008: „… Die Streiks beginnen. Das habe ich gemerkt, weil der Müll nicht abgeholt worden ist. Zum Glück schneit es wieder, und die Reste vom Spinatauflauf sind in der Mülltonne gefroren … sonst würden sich die Nachbarn noch beschweren…“

Mittwoch, 12. November 2008: „… Die Hermannstraße ist verstopft: Die Autos drängen sich in mehr Spuren, als vorgesehen sind, über die nasse Fahrbahn; dazwischen veranstalten kleine Kinder eine Schneeballschlacht. Die Streiks dauern nun schon mehrere Monate. Heute Nacht bin ich schweißgebadet aufgewacht, weil ich vergessen hatte, in welche Richtung ich die U-Bahn nehmen müsste, wenn sie denn käme … Ich habe es vergessen. Weiß auch gar nicht mehr, was in der Welt passiert, mangels U-Bahn-TV. Eine fluchende Horde arbeitswütiger Menschen sammelt sich allmorgendlich vor der versperrten U-Bahn-Station, schickt, die Fäuste emporgereckt, manche Verwünschungen gen Himmel, und treibt schließlich, mordend und brandschatzend (bis jetzt noch im Geiste) in Richtung S-Bahn-Station…“

Freitag, 5. Dezember 2008: „… Ich fasse es nicht! … Mein Schlittenhund ist verschwunden! Ich habe Olivier im Verdacht, ihn entführt zu haben. Wie soll ich jemals wieder ins Schuhgeschäft kommen? … Werde versuchen, den Dackel vor den Schlitten zu spannen …“

Dienstag, 30. Dezember 2008:“… Dort angekommen, müssen die so bitter Enttäuschten feststellen, dass auch hier nicht viel zu holen ist: Jeder S-Bahn-Wagen ist heillos überfüllt, sodass nicht nur niemand einsteigen kann – die Insassen kommen auch nicht mehr raus. Kurzum, sämtliche Berliner S-Bahnen sind dazu verdammt, wochenlang im Kreis zu fahren mit den immergleichen, heulenden Passagieren, die so eingequetscht sind, dass an ein Verlassen der Bahnwaggons nicht zu denken ist. Niemand erreicht seinen Arbeitsplatz…“

Mittwoch, 14. Januar 2009: „… Ich habe begonnen, einen Roman zu schreiben: Science-Fiction, über ein Land, in dem die öffentlichen Verkehrsmittel so gut organisiert sind, dass man jederzeit überallhin gelangen kann … Ich nenne ihn „Bustopia“ …“

Dienstag, 17. Februar 2009:“… Einziger Lichtblick eines Streikmorgens in Berlin: Die Bäckereien. Manch Einer aus dem tobenden Mob (siehe oben) wird, wenn ihm aus der leicht offenstehenden Tür einer Bäckerei der Duft frischgebrühten Kaffees und warmer Brötchen entgegenweht, schwach, tritt aus der Menge heraus und schlägt sich durch bis ins nächste Stehcafé, wo er beschließt, den Tag mit der größtmöglichen Gelassenheit zu beginnen. Womöglich die einzig vernünftige Möglichkeit, der Situation zu begegnen…“

Die Identität des Verfassers ist bis heute nicht geklärt.